Das alte Ägypten

Alles über Götter, Mythen und Symbole

Das alte Ägypten > Ägyptische Mythen > Text eines Lebensmüden

Text eines Lebensmüden

Ein sehr alter ägyptischer Text (Verfasser unbekannt), der auf einem Papyrus aufgeschrieben wurde, handelt von dem Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele bzw. mit seinem Ba. Er wurde ca. 2000 v. Chr. verfasst (in der Zeit des Mittleren Reiches), ist aber nur bruchstückhaft erhalten. Dieser poetische Text gilt als einer der am schwierigsten zu verstehenden Schriften. Doch nicht nur das macht ihn so interessant, sondern vor allem das Thema, das sehr gut in unsere heutige Zeit passt.

Gespräch eines Lebensmüden: Ba hilft bei der Mundöffnungszeremonie
Der Seelenvogel Ba hilft Anubis bei der Wiederbelebung des Toten, beim sogenannten Mundöffnungsritual, das an der Mumie vorgenommen wird.

Gesprächspartner Seele – Ba

Wichtig ist zu wissen, dass der Alte Ägypter unter Seele etwas anderes verstand als wir heute. Es gab im Alten Ägypten mehrere Götter der Seele, die Personifikationen unterschiedlicher „Aspekte“ der Seele darstellten. Drei Götter bzw. Kräfte der Seele wurden besonders bekannt: der Ach, der Ba und der Ka.

Beim Gespräch eines Lebensmüden mit seinem Ba geht es um den beweglichen Teil der Seele, der an viele Orte gelangen kann. Daher wird der Ba gerne als Vogel dargestellt. Der Ba ist für das Leben nach dem Tod sehr wichtig, da er für den Leichnam sorgt und ihm gedenkt. Nur eine regelmäßige Vereinigung mit dem Ba belebt den Leichnam und versorgt ihn mit ewigen Kräften.

Die Bitte des Lebensmüden sterben zu dürfen

Totengericht mit Ba
Hier ist der Ba beim Totengericht anwesend. Es handelt sich um den Vogel mit menschlichem Kopf (oberhalb der linken Waagschale), der beim Wiegen des Herzens, (linke Waagschale), dabei ist. Auf der rechten Waagschale befindet sich die Feder der Maat. Anubis prüft das Lot der Waage und Thot notiert das Ergebnis. Hinter ihm kauert ein dämonisches Wesen, die Verschlingerin. Sie frisst alle Herzen, die schwerer als die Feder der Maat wiegen, was den endgültigen Tod bedeutet.

Das (Streit-) Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele (Ba) ergibt sich aus einer sehr schwierigen Situation heraus. Es geht um einen unglücklichen Mann, der ein schweres Schicksal zu tragen hatte. Was genau ihn ereilte, lässt sich nur anhand seiner Klagen deuten, da der ägyptische Text nur bruchstückhaft erhalten ist. Er war ein sanftmütiger Mensch und wurde – vermutlich durch eine Krankheit – von seinen Freunden und Brüdern im Stich gelassen. Er hatte keinen Vertrauten mehr, seine guten Taten waren vergessen, man beraubte und verurteilte ihn zu Unrecht. Sein Name wurde in den Schmutz gezogen. Das alles brachte ihn dazu, den Tod als Erlösung zu begrüßen und zu ersehnen.1

Mein Ba, töricht ist es, die Sorgen über das Fortleben geringzuschätzen: führe mich einem Tode zu, (der so ist), dass ein Unwillkommenes meiner dabei nicht möglich wird! Mache mir den Westen angenehm! Ist nicht das „Unglück“ nur ein Lebensabschnitt? Bäume sind so: sie werfen ab.2

Der unglückliche Mann spricht seine Seele an und bittet sie, ihn in den Tod zu führen, denn er braucht jemanden, der ihm gedenkt und für ihn sorgt. Im Westen liegt das Totenreich und sein Ba soll dafür sorgen, dass es ihm dort gut geht. Durch seinen Tod möchte er das Unglück abwerfen, genauso wie die Bäume, die ihre Blätter abwerfen, damit sie im Winter von ihrem Ballast befreit sind.

Das Streitgespräch eines Lebensmüden mit seinem Ba

Obwohl ihm sein Ba zu Anfang rät, den Flammentod zu wählen, was merkwürdig ist, denn dadurch würde der Körper des Mannes zerstört, was für ein Leben nach dem Tod sehr ungünstig ist, schreckt der Ba dann selbst davor zurück – vielleicht genau aus diesem Grund (-> Mumifizierung). Es nimmt sogleich eine andere Position ein, nämlich dem Mann zu drohen, falls er Selbstmord begeht. Denn dann würde er ihn verlassen, ihn also nicht in den Westen begleiten. Auch das wäre für den Lebensmüden fatal, denn nicht nur ohne Körper, sondern auch ohne sein Ba, kann er auf kein ewiges Leben im Jenseits mehr hoffen.

Das Leben im Totenreich ist erstrebenswert

Nun beginnt der Unglückliche seiner Seele das Leben im Westen (= Totenreich) in schillernden Farben zu beschreiben und davon zu schwärmen.

Jenes ist die Stätte, um sich niederzulassen,
das Ziel des Herzens.
Eine Wohnstatt ist der Westen, eine Bootsfahrt
[…]

Der unglückliche Mann möchte im Reich des Todes wie ein Höhergestellter auftreten (der in einer Pyramide wohnt), als jemand, bei dessen Begräbnis Hinterbliebene für die notwendigen Opfer, Gebete und Andenken etc. gesorgt haben. Dazu braucht er eine Gemeinschaft mit seinem Ba, die den Tod überdauert. Diese Bindung soll so fest und eng sein, dass alle anderen, die das sehen, neidisch werden.

Im Westen, wo die Sonne untergeht, liegt das Jenseits - ersehnter Ort unseres lebensmüden Mannes.
Das Totenreich der Alten Ägypter liegt im Westen, da, wo die Sonne untergeht.

Das Leben im Diesseits ist erstrebenswert

Der Ba hat jedoch kein Verständnis dafür, sondern im Gegenteil, nur Spott und Hohn übrig. Die Bestattungszeremonien macht er lächerlich und hält sie für Unsinn. Ein Ausschnitt:

Wenn du an das Begräbnis denkst: Das ist eine Gemütsverstimmung. Das heißt nur Tränen hervorzulocken dadurch, dass man einen elend macht. Es bedeutet, einen herauszureißen aus seinem Haus und ihn auf den Sandhügel zu werfen. Du wirst nicht herauskommen, um die Sonne zu sehen.

Sein Ba rät ihm sogar, dass er dem „schönen Tag folgen“ und die Sorgen vergessen soll. Die Poesie dieser Textstelle könnte ein Zitat eines Harfnerliedes (Trinklied) sein, welches im Alten Ägypten zu Festgelagen gesungen wurde. Der Ba weist also die Verherrlichung des Totenreichs zurück, indem er den Lebensmüden auf die Freuden dieser Welt aufmerksam macht. Doch die Entgegnungen der Seele wirken eher dürftig, oberflächlich und nur wenig überzeugend. Die Freuden dieser Welt, die sie beschreibt, gehen nicht wirklich in die Tiefe, sie wirken eher zerstreuend, berieselnd, unterhaltend, anstatt das Herz zu erreichen und zu „erheben“.

Damit endet das Streitgespräch. Beide Standpunkte wurden genannt. Der unglückliche Mann will den Freitod mit der damit verbundenen Hoffnung auf ein erfülltes, sinnvolles Leben im Jenseits. Die Seele hingegen möchte das Leben im Diesseits genießen und sich nicht um die Fürsorge des Mannes im Jenseits kümmern.3 Man fragt sich, ob eine Einigung der beiden überhaupt möglich ist.

Konträre Positionen des Lebensmüden und seiner Seele

Doch dann kommt der Verfasser dieser Erzählung auf eine sehr schöne Idee, dass beide ihre Positionen vertiefen dürfen. Die Seele verdeutlicht ihren Standpunkt anhand von zwei Prosatexten (Gleichnissen), die nicht leicht zu verstehen sind. Der Lebensmüde vertritt seinen Standpunkt anhand von vier Gedichten – manche sprechen hier auch von vier Liedern.

Eines der Gleichnisse der Seele soll hier Gehör finden. Zwei bzw. drei Standpunkte des Lebensmüden hingegen sind weiter unten, in den nächsten Kapiteln (Ab dem Kapitel: Eine Welt ohne Maat) zu finden, im Zusammenhang mit einer sehr interessanten Deutung der gesamten Erzählung.

Eines der Gleichnisse von der Seele

Ein Mann bittet um eine Vesper, seine Frau aber sagt zu ihm: Es gibt erst etwas zum Abendbrot. Er geht hinaus ins Freie, um sich eine Weile auszuschimpfen. Dann begibt er sich wieder nach seinem Hause zurück, indem er wie ein anderer ist. Doch seine Frau weiß über ihn Bescheid. Er schimpfte und zeigt sich unzugänglich für ihr gutes Zureden.4

Dieses Gleichnis passt sehr gut zur Situation, in der sich – aus Sicht der Seele – der Lebensmüde befand. A. Scharff gibt eine überzeugende Interpretation über den Standpunkt der Seele in ihrer Rolle als Verführerin zum Leben. Sie übernimmt die Rolle der Frau, die ihrem Mann erst später etwas zu essen geben will:

Wenn du dich so darüber aufregst, weil ich nicht in den von dir gewünschten vorzeitigen Freitod einwillige, so bist du genauso dumm wie jener Mann, der sich aufregte, weil er sein gewünschtes Essen nicht rechtzeitig bekam. Ich kenne dich doch genau; du willst nie auf mich hören, aber schließlich kommst du doch und tust, was ich will.5

Wie geht die Geschichte des Lebensmüden aus?

Um das Ergebnis der ganzen Auseinandersetzung zweier Standpunkte vorwegzunehmen: Der Konflikt löst sich wie von selbst, ohne dass beide – der Lebensmüde und seine Seele (Ba) – noch einmal miteinander reden.

Denn letztlich überzeugt der Lebensmüde sein Ba, ihn in den Tod zu begleiten. Es gibt also einerseits ein Happy End, da er auf ein ewiges Leben im Totenreich hoffen darf. Es gibt aber auch kein Happy End, weil sein Leben in der diesseitigen Welt endet, bevor seine Zeit gekommen ist. Nun stellt sich die Frage: Was will uns dieser alte ägyptische Text eigentlich sagen oder aufzeigen?

Eine Welt ohne Maat

Trauriger Mann
In einer Welt ohne Maat macht das Leben keinen Sinn. Denn es fehlen Gemeinschaftlichkeit, Liebe und Gerechtigkeit.

Was macht diesen lebensmüden Mann eigentlich so unglücklich? Er scheint in dieser Situation ohne eigenes Zutun gelangt zu sein, denn er spricht von sich selbst als „Schuldloser“. Sein Zustand ist ungerechtfertigt, denn er hat niemanden etwas Böses getan.

Eine Welt ohne Gemeinschaft

Antwort gibt ein Lied, das sog. zweite Lied auf dem Papyrus, das 16 Strophen hat und eine Welt beschreibt, wo es keine Maat (mehr) gibt. Da, wo die Maat fehlt, herrscht Einsamkeit und Verzweiflung. Denn der unglückliche Mann ist völlig isoliert von der Gesellschaft. Es gibt keine Gerechtigkeit und Wahrheit mehr unter den Menschen, denn die Menschheit ist der Gemeinschaft nicht mehr fähig. Von dieser Welt ohne Liebe beschreibt uns der unglückliche Mann sehr viele Details. Mit diesem Lied (Gedicht) verdeutlicht er seiner Seele seinen Standpunkt und sein Problem.

Zu wem kann ich heute reden?

Zu wem kann ich heute reden?
Die Brüder sind böse, die Freunde von heute, sie lieben nicht.

Zu wem kann ich heute reden?
Die Herzen sind habgierig, jedermann nimmt die Habe seines Nächsten.

Zu wem kann ich heute reden?
Der Milde geht zugrunde, der Gewalttätige ist herabgestiegen zu jedermann.

Zu wem kann ich heute reden?
Das Gesicht der Bosheit ist zufrieden, das Gute ist überall zu Boden geworfen.

Zu wem kann ich heute reden?
Wer Zorn erregen sollte durch seine Schlechtigkeit, er bringt alle zum Lachen, auch wenn sein Fevel schlimm ist.

Zu wem kann ich heute reden?
Raub herrscht, jedermann bestiehlt seinen Nächsten.

Zu wem kann ich heute reden?
Der Verräter ist ein Vertrauter,
der Gefährte ist zum Feind geworden.

Zu wem kann ich heute reden?
Man erinnert sich nicht des Gestern, man handelt nicht für den, der gehandelt hat heutzutage.

Zu wem kann ich heute reden?
Die Brüder sind böse, man nimmt Zuflucht zu Fremden für die Zuneigung des Herzens.

Zu wem kann ich heute reden?
Die Gesichter sind abgewandt, jedermann wendet den Blick zu Boden gegenüber seinen Brüdern.

Zu wem kann ich heute reden?
Die Herzen sind habgierig, nicht gibt es ein Herz, auf das man sich verlassen kann.

Zu wem kann ich heute reden?
Es gibt keine Gerechten, das Land ist den Frevlern überlassen.

Zu wem kann ich heute reden?
Es ermangelt an einem Vertrauten, man nimmt Zuflucht zu einem Unbekannten, um ihm zu klagen.

Zu wem kann ich heute reden?
Es gibt keinen Zufriedenen; den, mit dem man ging, gibt es nicht mehr.

Zu wem kann ich heute reden?
Ich bin beladen mit Elend aus Mangel an einem Vertrauten.

Zu wem kann ich heute reden?
Unrecht zieht durchs Land und sein Ende ist nicht abzusehen.6

Eine Welt ohne Liebe

Die Welt scheint auf dem Kopf zu stehen. Denn der unglückliche Mann kann seine Werte nicht mehr leben. Er will eine gerechte Welt, eine Welt, in der die Maat beheimatet ist. Verbrechen müssen bestraft, die Opfer müssen in den Tempel dargebracht und die Rituale müssen zelebriert werden, um die Ordnung der Maat immer wieder zu bestätigen und dadurch herzustellen. Dieser Prozess des Ordnens durch den Menschen darf nie aufhören, sonst entsteht eine Welt ohne Maat – eine Welt ohne Gemeinschaft, ohne Gerechtigkeit, ohne Liebe.

Das Sehnen nach dem Tod

In solch einer Welt ohne Maat kann und will der unglückliche Mann nicht mehr leben. Das erzählt er uns im dritten und vorletzten Lied. Er sehnt sich nach dem Tod, der für ihn kein Ende, sondern ein Heimkommen, Heilung und Befreiung verspricht.

Sehnsucht nach dem Reich des Westens.
Das Sehnen nach dem Tod ist für den Lebensmüden ein Sehnen nach Heilung.

Der Tod steht mir heute vor Augen
wie die Genesung eines Kranken,
wie das Hervortreten nach draußen,
nachdem man eingesperrt war.

Heute steht der Tod vor mir
wie Myrrheduft,
wie das Sitzen unter einem Segel am Tag der Brise.

Heute steht der Tod vor mir
wie Lotusduft,
wie das Sitzen am Gestade der Trunkenheit.

Heute steht der Tod vor mir
wie ein geebneter Weg,
wie wenn ein Mann heimkehrt aus dem Krieg.

Heute steht der Tod vor mir
wie eine Himmelsentwölkung,
wie wenn einer entdeckt, was ihm unbekannt war.

Heute steht der Tod vor mir
wie, wenn einer sich danach sehnt, sein Haus wiederzusehen,
nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verbracht hat.
7

In den Augen des lebensmüden Mannes ist das Jenseits der Ort, wo es die Maat noch gibt. Dort herrscht Gerechtigkeit und eine funktionierende Gemeinschaft. Die Göttin Maat wird zwar im Papyrus nicht namentlich erwähnt, doch sie wird sehr genau beschrieben. Sie ist das Sehnen des Mannes nach Gerechtigkeit, Versorgung und Weisheit, die Gehör findet (was Wissen und Verständigung impliziert).

Das Sehnen nach dem Leben

Genaugenommen ist das Sehnen des lebensmüden Mannes nach dem Tod ein Sehnen nach dem Leben. Denn sein Problem besteht ja darin, als Gerechter in einer Welt leben zu müssen, wo es keine Gerechtigkeit mehr gibt.8 Die Maat ist aus der Welt der Menschen verschwunden. Mit dieser Tatsache setzt sich der Lebensmüde auseinander und er macht uns sehr deutlich, dass er in solch einer Welt nicht mehr weiterleben kann.

Sehnsucht nach den Göttern
Die Sehnsucht des Lebensmüden nach dem Tod ist eigentlich ein Sehnen nach dem Leben.

Die einzige Lösung seines Problems besteht darin, zu den Göttern zu gehen, und diese befinden sich im Jenseits und auf dem Weg zum Jenseits. Im Papyrus werden die Götter auch erst an der Schwelle zum Tod (= Totengericht) erwähnt, wenn es darum geht, über den Mann zu richten.

Möge Thot mich richten, der die Götter befriedet,
möge Chonsu mich verteidigen, der wahrhaftige Schreiber,
möge Re meine Rede anhören, der die Sonnenbarke zur Ruhe weist,
möge Isdes mich verteidigen, der in der Abgesonderten Kammer ist.
9

Der Mann ist sich durchaus bewusst, dass die Götter über ihn richten und anhand seiner Taten entscheiden, ob er im Jenseits weiterleben darf. Das ist genau das, was er will und ersehnt – das Gesetz der Maat, welches umgesetzt wird – Gerechtigkeit.

Wenn die Maat fehlt – Parallelen zur heutigen Welt

Die Deutung, dass der Mann seines Lebens deshalb müde wird, weil er in einer Welt leben muss, wo es keine Maat mehr gibt, kommt von Jan Assmann und ich finde sie sehr überzeugend. Natürlich kann man auf andere Deutungen kommen und sie können gerne nebeneinander bestehen, sofern sie in sich stimmig sind. Mythen, Gedichte und Prosatexte sind immer mehrdeutig – das ist ihre Stärke und Besonderheit. In der Quellenangabe am Ende des Textes finden sich Links zu Schriften, die andere Deutungen vornehmen.

Dennoch finde ich seine Deutung am stimmigsten, vielleicht auch deshalb, weil die Geschichte des unglücklichen Mannes so gut in unsere heutige Welt zu passen scheint. An manchen Stellen gewann ich den Eindruck, dass dieser alte ägyptische Text eine damalige Teilvision unserer heutigen Welt beschreibt.

Die Lebensmüden heute – Zunahme von Depressionen

Wir haben viele Fortschritte erfunden, das Internet und andere technische Errungenschaften, die uns in ihren Bann ziehen und ohne die unser Leben gar nicht mehr denkbar oder möglich wäre. Die Technik verschafft uns viel Zeit und eine gewisse Ortsungebundenheit. Wir könnten jederzeit und an fast jedem Ort mit anderen Menschen in Kontakt kommen und kommunizieren. Doch leider schwinden die sozialen Kompetenzen der Menschen, was nicht nur Corona geschuldet ist – die Folge: Vereinzelung und Vereinsamung auch junger Menschen.

Die Zahl der Depressionen nimmt zu. Das Bundesministerium schreibt, dass von 100 Menschen 16 bis 20 irgendwann in ihrem Leben an einer Depression oder chronisch depressiven Stimmung erkranken.10

Picken wir drei beispielhafte Verse aus dem zweiten Lied (Gedicht) heraus, wo der Lebensmüde eine Welt ohne Maat beschreibt und beziehen sie auf unsere heutige Zeit.

Zuflucht bei Unbekannten

Zu wem kann ich heute reden?
Es ermangelt an einem Vertrauten, man nimmt Zuflucht zu einem Unbekannten, um ihm zu klagen.

Heute gibt es Psychiater, Seelsorge auch per Telefon, Besuchsdienste etc. Das alles wäre im Alten Ägypten undenkbar gewesen. Dort lebte man im vertrauten Kreis und engen Verbund der Familie und Freunde. Einem „Unbekannten“ zu klagen, ist eine Folge unseres modernen Lebens. Bitte nicht missverstehen – es geht nicht gegen die Psychiater oder gegen andere Menschen, die Menschen helfen. Doch aus der Sicht des Alten Ägypters ist das die Folge einer Gesellschaft, in der die Menschen vereinsamen und eben keinen mehr haben, mit dem sie reden können. Menschen sind sogar bereit zu bezahlen, damit ihnen wenigstens ab und zu jemand zuhört.

Habgierige Herzen – Egoismus und Vereinsamung

Zu wem kann ich heute reden?
Die Herzen sind habgierig, nicht gibt es ein Herz, auf das man sich verlassen kann.

Jeder ist sich selbst der Nächste. Verlässlichkeit kann nur dann gelebt werden, wenn man fähig ist, von seinen eigenen Interessen Abstand zu nehmen. Das scheint den Menschen in der heutigen Zeit immer schwerer zu fallen. Sicherlich wirkt es aus heutiger Sicht menschlich, zuerst an sich und erst dann an andere zu denken. Doch aus der Sicht der alten Ägypter liegt der menschliche Schwerpunkt auf der Gemeinschaft – denn nur eine Kooperation mit anderen sichert das Leben aller.

Wer nur an sich selbst denkt, ohne auf die Interessen anderer Menschen zu achten, handelt letztlich gegen sich selbst. Habgier ist das schlimmste Laster für den Alten Ägypter. Denn ihre Folgen sind dramatisch: Man entwickelt keine Empathie für andere -> kein Verständnis für andere Sichtweisen -> Beziehungsunfähigkeit -> Vereinzelung -> Vereinsamung.

Moderne Formen der Habgier

Zu wem kann ich heute reden?
Die Herzen sind habgierig, jedermann nimmt die Habe seines Nächsten.

Besonders dramatisch ist Habgier, die innerhalb von Familien herrscht. Wir kennen heute wohl alle Geschichten aus Familien, die sich wegen Erbschaftsstreitereien entzweiten. Doch der Vers gilt nicht nur für die nächsten Angehörigen, denn Habgier ist in vielen Bereichen unserer Gesellschaft beobachtbar. Sie beginnt bei der Ausbeutung von Menschen im Job, die schlecht bezahlt werden und von ihrer Arbeit nicht mehr leben können.

Eine weitere moderne Form der Habgier ist der Konsum und eine verschärfte Form davon unsere Wegwerfgesellschaft. Wir haben alle mehr als genug zum Leben und sollen noch fleißig weiter konsumieren, damit unsere Wirtschaft wächst und dadurch stabil bleibt. Unser vergleichsweiser hoher Lebensstandard geht immer auf Kosten anderer, ärmerer Länder. Auch das ist – in ägyptischen Worten – die Habe unserer Nächsten, die wir ihnen wegnehmen.

Zusammenbruch der bestehenden Ordnung

Feuer im Himmel

Wenn ein Staat zusammenbricht, dann verschwindet auch die Maat und es kommt zum Chaos. Doch nicht nur die politische Organisation wird zerstört, sondern mit ihr auch die zivilisatorischen Errungenschaften, die ein gemeinsames, soziales Leben sicherstellen.

Es verschwinden: Vertrauen, Verlässlichkeit, Liebe, Freundschaft, Mitmenschlichkeit, Interesse an anderen Menschen und Kulturen, Verständigung, Gemeinschaftsgeist, Geselligkeit, die Erinnerung (auch die kulturelle Erinnerung und damit Wissen und Bildung). Stattdessen herrschen in der Welt Habgier (gegen Menschen zu rechnen), Verstocktheit (keiner hört dem anderen zu), Trägheit (es wird nicht für andere Menschen gehandelt), dicht gefolgt von Gewalt (worunter auch Beleidigungen und Drohungen zählen), Hass, Eigennutz, Misstrauen und Feindschaft.

Das ist die Zerstörung der Welt und das Schlimmste, was einem Alten Ägypter passieren kann. Es ist interessant, dass es über das „Ende der Welt“ eine solch ausgefeilte altägyptische Vision gibt. Interessant ist es auch, dass das Ende der Welt nur deshalb droht, weil die Menschen nicht mehr mit anderen Menschen kooperieren.

Weitere Texte aus dem Gespräch eines Lebensmüden mit seinem Ba

Nicht alle Texte sind hier zu finden, die zum PapyrusGespräch eines Lebensmüden mit seinem Ba“ gehören. Ich gab einige inhaltliche Zusammenfassungen und wählte exemplarisch diejenigen (übersetzten) Passagen aus, die ich für das Verständnis dieses sehr schönen Werkes für eingängig und geeignet befand. Auch glättete ich einige Formulierungen, wo es mir für ein besseres Verständnis angemessen erschien.

Weitere übersetzte Texte aus diesem Papyrus (mit Interpretationen) sind hier direkt im Anschluss, bei den Quellenangaben zu finden.

Zurück zum Symbollexikon

Quellen

1 Vgl. Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele (Pdf.)., aus dem Papyrus 3024 der Königlichen Museen, von Adolf Erman, S. 5 f.
2 Katherina Lohmann: Das Gespräch eines Mannes mit seinem Ba. S. 215.
3 Vgl. Alexander Scharff (1937), Der Bericht über das Streitgespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Abteilung, Heft 9.
4 Vgl. ebd. S. 39 (sinngemäß).
5 Ebd. S. 42 f.
6 Der „leidende Gerechte“ im alten Ägypten. Zum Konfliktpotential der ägyptischen Religion, von Jan Assmann (Würzburg, 1990), S. 214 f.
7 Ebd. S. 216
8 Vgl. ebd. ab Seite 217.
9 Ebd. S. 218
10 Bundesministerium für Gesundheit (Stand: 03.01.2022), Depression.